Wahnsinn im Alltag


Jutta Profijt: Schmutzengel – Roman

Jutta Profijt: Schmutzengel, München 2010, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-21206-9, 285 Seiten, Softcover, Format: 12 x 19 x 2,5 cm, EUR 8,95 (D), EUR 9,20 (A)

„Erst in diesem Moment realisierte ich das ganze Ausmaß meines Problems. Meines katastrophal grandiosen Problems. Eine Leiche im Haus eines Kunden, in dem ich gestern aus lauter Doofheit vergessen hatte, die Tür zu schließen. Eine Leiche! (Seite 105/106)

Von einem Tag auf den anderen gerät das Leben der Werbekauffrau Corinna Leyendecker, 31, total aus den Fugen. Aus heiterem Himmel wird sie von ihrem Agenturchef betriebsbedingt entlassen und sofort freigestellt.

Wenn es im Vorfeld Warnzeichen gegeben hat, so hat sie sie nicht erkannt. So muss es auch in ihrer Beziehung gelaufen sein, denn als sie nach der Kündigung überraschend früh nach Hause kommt, erwischt sie dort ihren Lebensgefährten Greg mit seiner Kollegin im Bett. Der faselt was von „Liebe auf den ersten Blick“ und will, dass Corinna sofort auszieht. Doch so schnell geht das nicht, und so haust sie vorübergehend im ehemals gemeinsamen Arbeitszimmer, während Greg mit der Neuen die restliche Wohnung bewohnt.

Um aus dieser blöden Situation herauszukommen und sich eine eigene Wohnung leisten zu können, braucht Corinna wieder einen Job. Wer in der Werbebranche arbeitet, weiß, was jetzt kommt:
„Sie sind ja schon über dreißig!“
„Ja.“
„Das ist in der Werbung natürlich ein Problem.“
(Seite 24)

Mitten in einem Vorstellungsgespräch, das der potenzielle Vorgesetzte für ein ausgiebiges Telefonat zur Regelung seines Privatkrams unterbricht, hat Corinna einen Geistesblitz: Warum nicht auf die Werbebranche pfeifen und aus ihrem Organisationstalent anderweitig Kapital schlagen – mit einem Wohnungs-Rundumbetreuungsservice? Haben nicht schon ihre Agentur-Kolleginnen immer gespottet, Greg genieße bei ihr „betreutes Wohnen“?

Ihrer punkigen Freundin und Ex-Kollegin, der Texterin Tabea „Troll“ Trollinger, muss sie ihre Geschäftsidee erst erklären: „Ich will Menschen, die keine Zeit haben, sich um ihren Haushalt zu kümmern, genau das abnehmen. Das Kümmern.“ (Seite 48) Tabea bleibt skeptisch, bietet aber an, die Werbemaßnahmen für Corinnas Startup-Unternehmen zu konzipieren. Sie ist es auch, die auf den Firmennamen „Schmutzengel“ kommt.

Wenn Corinna Rat und Hilfe braucht, geht sie nicht zu ihren Eltern, sondern zu ihrer patenten und jung gebliebenen Oma. Die hat auch gleich die perfekte Mitarbeitern für die Schmutzengel parat: Lisbeth Baues, 57, eine erfahrene Hauswirtschafterin, die derzeit ihr Leben privat und beruflich neu ordnet.

Die Schmutzengel legen los und erweisen sich bald als Erfolgskonzept. Die Idee ist gut, der Markt ist da – und Tabeas originelle Werbekampagne haut voll rein. Wie sie ein Speeddating zur Promotion-Veranstaltung umfunktioniert, das ist ebenso saukomisch wie wirkungsvoll.

Die Erfolgsgeschichte mutiert jedoch zum Horrortrip, als Corinna, gesundheitlich schwer angeschlagen, eines Abends vergisst, bei Rüdiger Lauenstein die Tür zum Kühlhaus zu schließen. Am nächsten Tag fährt sie hin um das Versäumte nachzuholen. Es soll sich ja kein Unbefugter Zugang verschaffen können. Doch als sie bei Lauenstein ankommt, ist genau das bereits geschehen: Im Kühlhaus liegt die Leiche eines Obdachlosen! Wie soll sie das nur ihrem Auftraggeber erklären, ohne dass der gute Ruf der Schmutzengel zum Teufel geht? Am besten gar nicht. Die Leiche muss weg!

Corinna lädt den Toten in den Kofferraum ihres Autos und macht sich vom Acker. Doch den Mann loszuwerden erweist sich ausgesprochen schwierig. Die Jungunternehmerin hat so viel um die Ohren, dass sie einfach nicht die Zeit findet, sich um die Leichenentsorgung zu kümmern. Und so kutschiert sie den Verstorbenen mit von Termin zu Termin – und ist heilfroh, dass die Temperaturen derzeit im Minusbereich liegen und die Leiche nicht zu riechen anfängt.

Es ist aber auch wie verhext! Einer ihrer Akquisetermine beschert ihr die kostenlose Teilnahme an einem Business-Stilseminar, bei dem’s ungefähr so herb zur Sache geht wie bei der Fernsehshow „Germany’s Next Topmodel“. Tabea schleppt Corinna zu einer Werbeveranstaltung, das Fernsehen steht auf der Matte und will einen Beitrag über die Schmutzengel drehen, die Familie rückt unangemeldet an – und zu niemandem kann man sagen: „Hör mal, ich habe gerade keine Zeit, ich muss dringend eine Leiche loswerden.“ Und dann wird auch noch das Auto abgeschleppt! Wenn Corinna nicht so erkältet und fiebergeschwächt wäre, würde sie vielleicht zur rechten Zeit eine glaubhafte Ausrede finden. Aber so kann sie kaum klar denken und lässt sich willenlos durch die Ereignisse treiben.

Als sie schon nicht mehr damit rechnet, ergibt sich eine Lösung für ihr Leichenproblem. Doch jetzt fängt das Chaos erst richtig zu toben an. Wie hätte Corinna auch ahnen können, dass es jemanden gibt, der den Toten unbedingt haben will? Jetzt ist er fort. Seine Wiederbeschaffung erweist sich als mindestens so aufwändig wie seine Entsorgung. Gibt es einen Ausweg aus dieser Situation? Wird Corinnas Leben jemals wieder in normalen Bahnen verlaufen?

Die Geschichte ist hochgradig gaga – und ausgesprochen amüsant, nicht nur für Leute aus der Werbebranche. Für die ist noch der eine oder andere Extra-Lacher drin, wenn sie branchentypische Marotten wiedererkennen – und vielleicht sogar einen Kollegen …

Zum Kichern ist, wie die rüpelhafte Tabea das Speeddating aufmischt … wie dieser theatralische Wurzelzwerg von Stilberater die Teilnehmerinnen mit seinem taktlosen Geschwätz fix und fertig macht … wie hyperaktive Fernsehteams in die bodenständige Welt der Schmutzengel einbrechen … und wie Lisbeth mit einem Universitätsprofessor über das Saubermachen philosophiert. Hier muss ich wieder meine übliche Warnung aussprechen: Dieses Buch bitte nicht in der Öffentlichkeit lesen! Oder die Reaktionen der Umwelt hinnehmen. Denn es kann durchaus sein, dass man bei der einen oder anderen Szene breit grinsen oder gar laut loslachen muss.

So abgedreht und unwahrscheinlich die Geschichte auch ist, sie vermittelt doch eine Botschaft: „Mädels, verliert eure Wünsche und Träume nicht aus den Augen! Und lasst sie euch nicht von Dummschwätzern ausreden, die sich auf eure Kosten ein bequemes Leben machen wollen!“ Lisbeth hat rund 30 Jahre gebraucht, um sich privat und beruflich aus solchen parasitären Beziehungen zu befreien. Corinna lernt ihre Lektion zum Glück schon früher. Aus dem ausgenutzten Hascherl wird peu a peu eine selbstbewusste Geschäftsfrau. Oma hat schon Recht, wenn sie schließlich feststellt: „Du siehst plötzlich so … erwachsen aus.“ (Seite 276) Und das liegt nicht nur daran, dass Corinna ein paar Ratschläge des durchgeknallten Stilberaters umgesetzt hat. Da hat ein Reifeprozess stattgefunden.

Leserinnen mit einer Affinität zu Zahlen werden sich fragen, wie denn eine 57-jährige Oma eine 31-jähige Enkelin haben kann. Und einen Enkel, der zwischen 40 und 50 ist. (Erwähnt wird nur, dass Corinnas Bruder um so vieles älter ist als sie, dass er ihr Onkel sein könnte.) Corinnas Mutter wäre laut Buch 40. Das kann auch nicht sein. Entweder hat sich die Autorin verrechnet oder das Lektorat hat am Alter der Figuren so lange herumkorrigiert, bis gar nichts mehr zusammenpasste. Das ist für die Geschichte nicht weiter wichtig, aber Zahlenmenschen stören solche Ungereimtheiten.

Doch davon abgesehen: Die Geschäftsidee der Schmutzengel ist genial! Wenn sie nicht nur für Männer arbeiten würden – Frauen sind ihnen in Haushaltsdingen zu kritisch – würde ich sie sofort engagieren. Bei uns auf dem Grundstück liegen auch garantiert keine Leichen herum. Höchstens mal eine tote Maus …

Die Autorin:
Jutta Profijt wurde 1967 in Ratingen geboren. Nach dem Abitur ging sie ins Ausland, arbeitete als Exportmanagerin im Anlagenbau und war jahrelang selbstständige Unternehmerin. 2003 veröffentlichte sie ihren ersten Kriminalroman. Heute lebt sie als freie Autorin in der niederrheinischen Provinz.

Kater lieben Manuskripte.

Rezensent: Edith Nebel
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Storyolympiade 2009/2010: Rache! – Die 28 besten Geschichten

Buchvorstellung und Werkstattbericht

Storyolympiade 2009/2010: RACHE! – Die 28 besten Geschichten des Wettbewerbs, Nittendorf 2010, Wurdack-Verlag, ISBN 978-3-938065-71-6, Softcover, 200 Seiten, Format: 13,5 x 21,5 x 1,8 cm, EUR 12,95.

Die Kurzgeschichtensammlung RACHE! kannte ich schon, als sie noch sooo klein war und lediglich eine Idee der Autorengemeinschaft GESCHICHTENWEBER für das Projekt „Storyolympiade 2009/2010“.

Die „Storyolympiade“ gibt es bereits seit dem Jahr 2000. Sie ist ein jeweils themengebundener Kurzgeschichtenwettbewerb aus dem Bereich SF/Fantasy/Mystery, dessen beste Beiträge am Schluss in einem Band des Wurdack-Verlags veröffentlicht werden.

Darüber, was den Kriterien der Ausschreibung entspricht und generell veröffentlichungstauglich ist, entscheidet eine – in diesem Fall achtköpfige – GESCHICHTENWEBER-Vorjury. Diese Juroren lesen und bewerten sämtliche eingegangenen Beiträge und sortieren dabei schon mal kräftig aus. Von ursprünglich 241 Rache-Texten blieben am Schluss des Vorgangs noch 33 übrig.

Welche dieser verbliebenen 33 Geschichten preiswürdig sind und mit Gold, Silber und Bronze ausgezeichnet werden, darüber befindet eine personell anders zusammengesetzte Hauptjury. Bei der diesjährigen Storyolympiade waren es sieben Hauptjuroren – und einer davon war ich.

Auf Platz 1 kam Martina Sprengers herrlich boshafte Kurzgeschichte ALLE ZEIT DIESER WELT: Sues Mann verliebt sich in die neue Nachbarin Elisa, ein puppenhaftes Geschöpf von aufreizender Hilflosigkeit. Durch Zufall kommt Sue hinter das Geheimnis ihrer Rivalin …

Mit EINE FRAGE DES PRINZIPS kam Daniela Herbst auf Platz 2: Wayne hat dem Teufel eine Lebensspanne von 150 Jahren abgezockt. Doch er hat die Rechnung ohne den Tod gemacht. Der kann es nämlich überhaupt nicht leiden, wenn ihm einer ins Handwerk pfuscht. – Schon witzig, wenn der Tod wie ein gestresster Arbeitnehmer herumlamentiert. Er hat ja auch einen echten Knochenjob, der Ärmste!

Silke Walksteins Story DIE STIFTE DES TEUFELS belegte Platz 3: Für die letzten paar Groschen, die der verarmte Kunstmaler Rupert in der Tasche hat, wollte er sich eigentlich einen Strick kaufen und sich erhängen. Stattdessen ersteht er in einem kleinen Laden fünf Kohlestifte. Mit denen zeichnet er sich seine Wut auf all die Mitmenschen vom Leib, die zu seinem Ruin beigetragen haben. Das hätte er nicht tun sollen …

Die übrigen 25 Geschichten sind so unterschiedlich wie ihre Verfasser. Da gibt’s Mystery- und Fantasy-Szenarien mit rächenden Amazonen, Hexen und Hexenmeistern, Alchimisten und Dämonen, Zauberinnen die überhaupt keine sind und Elfen, die eine Frau ihres Volkes verteidigen, obwohl die das gar nicht will.

In den SF-Geschichten kommen wildgewordene Prozessoren vor, ein Klon mit eigener Agenda, Aliens, die als Kuscheltiere unterschätzt werden – und Dalia, die Tochter eines Minenbesitzers, die den Freitod ihres Vaters rächen will. Die, die ihn ruiniert haben, mögen sie für eine dumme Blondine halten, aber Dalia hat viel von ihrem Vater gelernt … Diese Geschichte – GOLDLÖCKCHENS RACHE von Arndt Wassmann – gehört zu meinen Favoriten. Da hat’s die Rächerin so richtig krachen lassen!

Manchmal bricht das phantastische Element gänzlich unerwartet in den gewöhnlichen Alltag ein. Bei der Fahrt in der U-Bahn, zum Beispiel, wo Benjamin eine ehemalige Schulkameradin trifft. Was eigentlich gar nicht sein kann, weil die junge Frau schon seit drei Jahren tot ist … (Sabine Lohrke: U-BAHN). Tom aus Heike Pauckners Story DIE TASCHENUHR will eigentlich nur ein Geschenk für seinen Vater kaufen. Auf das, was nun über ihn hereinbricht, ist er in keinster Weise vorbereitet. In Günter Wirtz’ Geschichte ALP liegt das Phantastische allein an der überraschenden und originellen Erzählperspektive. Sehr amüsant! Ein oder zwei Texte, die die Wettbewerbsvorgaben etwas weiter auslegen, kann so eine Geschichtensammlung vertragen.

Ich kann hier nur beispielhaft einige Beiträge vorstellen, auch wenn es über jeden einzelnen etwas zu sagen gäbe. Wer Spaß am Genre der Phantastischen Literatur hat, ab- und hintergründige Geschichten mag und sich gerne von unterschiedlichen Autoren mit Variationen zu einem Thema unterhalten lässt, dem dürfte die Kurzgeschichtensammlung RACHE! gefallen.

Wer nicht nur die verschiedenen Spielarten der Rache genießen möchte, die in diesem Band so unterhaltsam geschildert werden, sondern mit dem Gedanken spielt, selbst mal einen phantastischen Beitrag zur Storyolympiade einzureichen, sollte auf die entsprechende Ausschreibung der GESCHICHTENWEBER achten. Die „Storyolympiade 2011/2012“ ist bereits in Planung und Vorbereitung. Man muss auch nirgendwo Mitglied sein, um an dem Wettbewerb teilzunehmen zu können.

*****

Falls sich jemand fragt, wie eigentlich meine Finger in dieses Projekt kommen: Ich bin zwar kein Mitglied der GESCHICHTENWEBER, kenne und verfolge die Arbeit der Gruppe aber seit Jahren. Irgendwann hat man mich gefragt, ob ich bei der diesjährigen Hauptjury mitmachen wolle, und ich habe zugesagt – nicht so genau wissend, worauf ich mich dabei einlasse. Normalerweise entscheide ich bei Texten ja nur nach dem „Hit-oder-Shit“-Verfahren: Ein Beitrag kommt entweder für ein Projekt in Frage oder nicht. Hier dagegen muss man jede Geschichte nach verschiedenen Kriterien beurteilen, darf jede Punktzahlenkombination nur zweimal vergeben und trägt alle Werte in eine Tabelle ein, aus der schließlich die Gesamtwertung berechnet wird. (An dieser Tabelle wäre meine Jurorentätigkeit um ein Haar gescheitert, weil das Programm auf meinem Rechner nicht richtig lief.)

Da die Vorjury exzellente Arbeit geleistet hatte, lagen uns Hauptjuroren fast nur publikationsfähige Beiträge vor. Für mich waren viele Geschichten einfach auf hohem Niveau gut bis sehr gut. Und es war nicht immer einfach, die feinen Abstufungen zu machen, die das ausgeklügelte Bewertungssytem verlangte. Was soll man tun, wenn man drei Geschichten für sprachlich oder inhaltlich gleich stark hält, aber keine drei gleichen Punktzahlen vergeben darf? Man muss hier was abziehen, schlägt zum Ausgleich in einer anderen Rubrik wieder etwas drauf und hofft, dass man im großen und ganzen doch zu jedem Autor gerecht war.

Auch wenn ich manchmal gejammert und geflucht habe über diese penible Tabellenwirtschaft: Die Organisatoren der „Storyolympiade“ haben seit 10 Jahren Routine in dem Job und wissen ganz genau, wie man es machen muss. So hat sich denn auch eine „Top 10“ herauskristallisiert, über die sich die meisten Juroren wohl einig waren. Einstimmig wird man sich nie auf eine Rangfolge verständigen können. Denn Tabelle hin oder her: Das Bewerten literarischer Erzeugnisse ist und bleibt eine subjektiv gefärbte Angelegenheit.

Wer die Autoren der einzelnen Geschichten sind, erfuhr ich übrigens auch erstmals aus dem gedruckten Band. Die Jurymitglieder bekommen von den Organisatoren nämlich nur anonymisierte Manuskripte zugeschickt. Schummeln kann man hier nicht.

Ob ich auch beim nächsten Band wieder eine Juroren-Funktion haben werde, kann ich noch nicht sagen. Aber wer immer in der Jury sitzen wird, wird sich alle Mühe geben, aus der Gesamtheit der Einsendungen nur die allerbesten für die Leserinnen und Leser auszuwählen

Rezensent: Edith Nebel
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Linda Castillo: Die Zahlen der Toten – Thriller

Linda Castillo: Die Zahlen der Toten – Thriller, OT: Sworn to Silence, aus dem Amerikanischen von Helga Augustin, Frankfurt am Main 2010, Fischer Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-596-18440-8, 430 Seiten, Format: 12,5 x 19 x 3 cm, EUR 8,95 (D), EUR 9,20 (A).

„Er stößt einen Pfiff aus. ‚Eine waffentragende, fluchende, ehemals amische Polizeichefin. Ich fass es nicht.’“ (Seite 229) Die Rede ist von Chief of Police Kate Burkholder, 30. Nach einem traumatischen Erlebnis im Teenageralter ist es für sie mit der Illusion von der Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit der „Amish People“ ein für allemal vorbei.

Mit 18 verlässt sie ihre Familie und die amische Gemeinde in Painters Mill, Ohio, tritt ahnungslos und mittellos in die Welt der „Engländer“ ein und wird schließlich Polizistin in Columbus, Ohio: sechs Jahre Streife, zwei Jahre als Detective bei der Mordkommission.

Bei ihrer Familie und der Amisch-Gemeinde steht sie seit dieser Entscheidung unter Bann. Das heißt, die Leute reden zwar mit ihr, aber von weiteren sozialen Kontakten ist sie ausgeschlossen. In Columbus war ihr das weitgehend egal, aber vor zwei Jahren ist sie wieder in ihre Heimatstadt Painters Mill zurückgekehrt und hat die Nachfolge des altershalber ausgeschiedenen Chief of Police McCoy angetreten. „Ich war die perfekte Kandidatin: Ich hatte acht Jahre Diensterfahrung, einen Abschluss in Strafrecht und war in der Stadt aufgewachsen. Ich sprach fließend Pennsylvaniadeutsch, kannte die amische Kultur und stand ihrer Lebensweise verständnisvoll gegenüber.“ (Seite 70)

Kate hat ihre Rückkehr nicht bereut – bis jetzt. Denn nun holt sie die Vergangenheit mit voller Wucht wieder ein. Der „Schlächter“ ist zurück, ein Frauenmörder, der vor 16 Jahren schon einmal in der Gegend Angst und Schrecken verbreitet hat. Er entführt junge Frauen, hält sie tagelang gefangen, foltert sie auf unvorstellbar grausame und perverse Art und schneidet ihnen schließlich die Kehle durch. Wie zum Hohn nummeriert er seine Opfer, indem er ihnen jeweils eine römische Ziffer in den Bauch schneidet. Ein Detail, das niemals an die Öffentlichkeit drang.

Kate Burkholder ist sicher, dass das nicht derselbe Mann sein kann wie damals und dass sie einen Nachahmungstäter suchen. Eine Begründung dafür kann sie nicht liefern, weil sie sonst erklären müsste, was aus dem Serienmörder von damals geworden ist – und wer dafür verantwortlich zeichnet. Und das hätte fürchterliche Konsequenzen für sie und ihre Familie. Nun kann sie nur hoffen, dass die Ereignisse von vor 16 Jahren nicht ans Licht kommen und dass der Nachahmungstäter rasch gefasst wird.

Das letzte, was sie deshalb derzeit gebrauchen kann, ist Unterstützung von außen. Die Hilfe des FBI, die Bürgermeister und Stadtrat eilends herbeigerufen haben, wimmelt sie noch elegant ab. John Tomasetti vom BCI, dem Ohio Bureau of Criminal Identification and Investigation, den man ihr danach aufs Auge drückt, lässt sich aber nicht so einfach abschütteln. Für ihn, ein tablettensüchtiges Wrack, ist dieser Einsatz die letzte Chance. Wenn er den vergeigt, ist er weg vom Fenster. Dann feuern sie ihn.

Es ist ohnehin ein Wunder, dass sie Tomasetti so lange bei den Gesetzeshütern behalten haben. Der Kerl hat nämlich so viel Dreck am Stecken, dass es locker für „lebenslänglich“ reichen würde … wenn man ihm denn etwas nachweisen könnte. Aber er ist mit allen Wassern gewaschen. Und so dauert es auch nicht lange, bis er hinter Kate Burkholders Familiengeheimnis kommt.

Inzwischen gibt es ein zweites Opfer, und Kate ist selbst nicht mehr sicher, dass der Schlächter tot ist. Zu exakt gleichen die Taten von heute denen von damals. Das lässt zwei mögliche Schlüsse zu: Der Täter hat die Ereignisse vor 16 Jahren entgegen aller Wahrscheinlichkeit überlebt. Oder aber er war der falsche und der wahre Schlächter lief all die Jahre frei herum. Vielleicht mordete er sogar in anderen Bundesstaaten fleißig weiter, ohne dass man je in Painters Mill davon erfahren hat? Die fortlaufende Nummerierung der Toten spräche für diese Theorie.

Jetzt hilft nur noch gute, altmodische Polizeiarbeit. Kate zapft ihre persönlichen Kontakte an, durchforstet Datenbanken, Zeitungsarchive, Umzugsdaten und Listen leerstehender Gebäude, in denen der Schlächter ungestört foltern und morden könnte.

Als es ein drittes Opfer gibt, wird Kate wegen Unfähigkeit gefeuert. Sheriff Detrick übernimmt den Fall und präsentiert in der Tat kurz darauf einen Tatverdächtigen, der Kates Meinung nach in keinster Weise ins Täterprofil passt. Da wollte wohl jemand einen schnellen Erfolg vorweisen.

Kate ermittelt trotz ihrer Entlassung privat weiter. Tatsächlich stößt sie in ihren Listen und Berichten auf einen möglichen Zusammenhang. Der Schlächter ahnt nicht, dass Kate ihm auf der Spur ist, bis sich ein etwas übereifriger Informant verplappert. Jetzt ist der Serienmörder gewarnt – und Kate Burkholder auf einmal verschwunden.

Das Finale ist blutig und brutal und mörderisch spannend.

Man sieht schon: Ein beschaulicher „Häkelkrimi“ ist das hier nicht. Hier geht es höchst explizit zur Sache, grausam, detailliert beschrieben, blutig, eklig … Und sehr amerikanisch ist die Geschichte auch noch: das behördliche Zuständigkeitsgezicke zwischen der lokalen Polizei, dem FBI und dem BCI … der Cop, der sich mit dem organisierten Verbrechen eingelassen hat und der selben Methoden bedient wie die, die er verfolgt … der Polizist, der seine Familie durch ein Attentat verloren hat und seither ein psychisches Wrack ist … das sind Versatzstücke, die man aus Filmen und Fernsehserien kennt.

Dass man den Thriller trotzdem nicht als „platte Krawumm-Action für Hirnis“ ablegen muss, liegt an Chief of Police Kate Burkholder, die zwischen der modernen Welt der „Engländer“ und der fremden Welt der Amisch hin- und herwandert und uns Einblicke in das Denken und Leben einer Gemeinschaft bietet, mit der wir hier in Europa sonst gar nicht in Kontakt kommen. Wir kennen hier die Amisch mehr oder weniger aus den Medien oder vielleicht noch aus Erzählungen US-amerikanischer Verwandter oder Bekannter. Dieser permanente Kulturclash macht den Thriller außergewöhnlich und interessant. Und es würde mich wundern, wenn nicht schon die ersten Interessenten auf der Matte stünden, die aus DIE ZAHLEN DER TOTEN einen Film machen wollen.

Macht mal! Aber bitte nicht gar zu widerlich und detailliert …!

Erwähnt werden sollte noch, dass ein Großteil des Romans aus Sicht Kate Burkholders geschildert wird. Sie spricht als Ich-Erzählerin und im Präsens. Was Tomasetti, die Kollegen und die Leute im Ort erleben, das wird in dritter Person und im Präteritum erzählt. Da erweitert zwar den Blickwinkel des Lesers, ist aber bisweilen verwirrend. Man muss sich alle paar Seiten umorientieren, wobei der ständige Zeitenwechsel etwas irritierend sein kann. Wer solche Mätzchen gar nicht mag, der sei hiermit gewarnt.

Die Autorin:
Linda Castillo hat für Ihre Veröffentlichungen verschiedene Preise gewonnen, einschließlich des Daphne du Maurier Award of Excellence, die Holt-Medaille and und eine Nominierung für die Rita. Sie lebt mit ihrem Mann in Texas.

Rezensent: Edith Nebel
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Rita Falk: Winterkartoffelknödel – Provinzkrimi
Oktober 20, 2010, 3:29 pm
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Rita Falk: Winterkartoffelknödel – Provinzkrimi. Mit Glossar und den Originalrezepten von der Oma. München 2010, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-24810-5, Softcover/Klappenbroschur, 233 Seiten, Format: 13,5 x 21 x 2,7 cm, EUR 12,90 (D), EUR 13,30 (A)

„Wenn der Neuhofer fünfzigtausend bekommen hat und der OTM-Fuzzi fünfhunderttausend bezahlt hat, dann stimmt was nicht. Entweder einer von den zweien lügt, oder ein dritter hat die beiden ganz schön verarscht. Hat jetzt sehr viel Geld und haut sich vor lauter Freude auf die Schenkel.“ (Seite 82)

Stellen Sie sich vor, der kleine Ludwig aus Ludwig Thomas LAUSBUBENGESCHICHTEN wäre heute Ende 30 und Dorfpolizist in der niederbayerischen Provinz. Dann haben Sie so ungefähr eine Ahnung von dem Ton, in dem der Eberhofer Franz, der Ich-Erzähler in dem Roman, uns seine Erlebnisse schildert. Älter ist er geworden, aber erwachsener und weltgewandter nicht unbedingt. Dafür hat er sich eine bisweilen recht deftige Wortwahl angewöhnt, der Bub.

Eigentlich hat Franzens Karriere ja ganz vielversprechend begonnen. 15 Jahre lang war er Polizist in München. Bis sein Kollege – der Birkenberger Rudi – und er sich von einem Straftäter haben provozieren lassen. Und dann haben sie ihm die … äh … sie haben ihn … also, der Birkenberger Rudi hat eine schwere Körperverletzung an dem Mann begangen und der Franz hat’s nicht verhindert.

Rudi ging dafür für zweieinhalb Jahre in den Bau und arbeitet heute als Kaufhausdetektiv im Media Markt. Und den Franz haben sie nach einem weiteren Zwischenfall erst in psychiatrischen Behandlung geschickt und ihn dann in sein niederbayerisches Heimatdorf Niederkaltenkirchen versetzt.

Dort ist, kriminalistisch gesehen, nicht gerade die Hölle los. Verkehrsunfälle, „Mann haut Frau“, gelegentliche Wirtshaus-Raufereien – mehr gibt’s da nicht. Und so führt der Franz ein beschauliches Leben. Wohnen tut er mit seinem Hund, dem Ludwig, auf dem elterlichen Anwesen. Allerdings nicht im Haus, weil ihm da die laute Beatles-Musik auf die Nerven geht, die sein kiffender alt-68-er-Vater ständig hört. Franz haust provisorisch im ehemaligen Saustall, den er irgendwann, wenn er mal Zeit und Geld hat, zu einer richtigen Wohnung umbauen will.

Bekocht werden Vater und Sohn von der 79-jährigen, fast gehörlosen Großmutter, einer kleinen, energischen Frau mit einer Vorliebe für die Schnäppchenjagd und unmissverständliche Meinungsäußerungen. Franz’ Mutter lebt nicht mehr, und sein älterer Bruder, der Buchhändler Leopold, mit dem er in herzlicher Abneigung verbunden ist, bleibt ihm Gottseidank meist vom Hals.

„Der Leopold ist halt ein Arschloch“, findet Franz. „(…) Er ist ein mieser Langweiler mit dem Hang zum Hinterfotzigen.“ (Seite 15). Noch weniger als vom Bruder hält er von dessen zweiter Ehefrau, der etwas vulgären Rumänin Roxana. „Raus aus dem Puff und rein in den Muff“ (Seite 15) ist noch das Zitierfähigste, was ihm zu seiner derzeitigen Schwägerin einfällt.

Wenn der Franz gerade nicht arbeitet, mit dem Hund geht oder sich über seine Familie ärgert, hängt er mit seinen Kumpels, dem Metzger Simmerl, dem Gastwirt Wolfi und dem Heizungspfuscher Ignatz Flötzinger herum. Oder mit seiner Jugendfreundin und Gelegenheits-Geliebten Susi.

Doch auf einmal überschlagen sich die Ereignisse – zumindest für dörfliche Verhältnisse. Das verlassene Sonnleitner-Gut ist wieder bewohnt. Mercedes Dechamps-Sonnleitner, die rassige Tochter der nach Kanada ausgewanderten Besitzer, ist dort eingezogen und will das Anwesen mit Hilfe eines befreundeten Architekten renovieren.

Mercedes! Ach was: ein Ferrari ist diese Frau! Das halbe Dorf ist verrückt nach ihr. Franz auch. Und als wäre das nicht schon Aufregung genug, hat er jetzt auch noch einen Dreifachmord an der Backe. Oder wie soll man das sonst nennen, wenn sich in der Familie Neuhofer auf einmal die unnatürlichen Todesfälle häufen? Der Vater und der ältere Sohn werden Opfer unerklärlicher Arbeitsunfälle und die psychisch kranke Mutter wird erhängt im Wald gefunden.

War’s der jüngere Sohn Hans, der gegen den Willen der Restfamilie das Elternhaus an eine Tankstellengesellschaft verkaufen wollte? Hat er seine Angehörigen aus diesem Grund auf raffinierte Art beseitigt? Unwahrscheinlich, meint Franz, denn der Neuhofer Hans mag ein guter Fußballer sein, aber ist nicht gerade ein Raketenforscher. Einen Mehrfachmord zu planen, das würde eindeutig seine intellektuellen Fähigkeiten übersteigen.

Da fällt der Hans einem Verkehrsunfall zum Opfer, der genauso merkwürdig ist wie der Tod seiner Angehörigen. Und so schnell können die Niederkaltenkirchener gar nicht gucken, wie an Stelle des Neuhofer-Hauses eine nagelneue Tankstelle steht.

Jetzt muss der Eberhofer Franz sogar einen Vierfachmord aufklären. Nur glaubt ihm das keiner. Richter Moratschek hält alles für Hirngespinste und schickt Franz wieder zum Psychiater. Dem erzählt unser Dorfgendarm alles, war er hören will, und ermittelt dann privat weiter, mit der Unterstützung seines Ex-Kollegen Birkenberger. Bis in ein luxuriöses Romantikhotel auf Mallorca führen sie ihre inoffiziellen Ermittlungen!

Und wenn der Franz nicht gar so abgelenkt wäre von allerlei nervigem Familienklimbim, bei dem abgeschnittene Zehen, ein runder Geburtstag, eine entlaufene Frau und eine stinksauere Susi eine Rolle spielen, ganz zu schweigen vom rassigen „Ferrari“, hätte er vielleicht schon viel früher gemerkt, wo der Hase im Pfeffer liegt.

Die Oma hat bereits vor geraumer Zeit den entscheidenden Hinweis gefunden – in einem uralten Bofrost-Prospekt. Aber wer hört schon auf eine alte Frau?

Die Geschichte ist genauso schräg und abgefahren, wie sie hier klingt. Wobei der Kriminalfall an sich eher sekundär ist. Das ist wie beim Münsteraner TATORT im Fernsehen oder der TV-Serie DIE ROSENHEIM-COPS: Das Geschwätz ist das beste! Wer eine Affinität zur Region hat und/oder weiß, wie’s auf dem Dorf zugeht, wird ein ums andere Mal schmunzeln, grinsen oder laut loslachen. (Also das Buch möglichst nicht gerade in der Bahn lesen. Oder mit den Blicken der Mitreisenden zu leben lernen.)

Der Roman ist nicht im Dialekt geschrieben. Er enthält vielleicht zwei Dutzend mundartliche Begriffe, die im Glossar treffend und unterhaltsam erklärt werden. Aber anhand der „Regionalgrammatik“ hört man die Mundart schon durch. Wer schon die Krätze kriegt, wenn wir Südstaatler mal „der Teller“ sagen oder „größer wie“, für den ist das nichts.

Ein bisschen ärgern könnte man sich als Leser vom Land schon, weil in dem Roman irgendwie alle Dörfler als Dorfdeppen dastehen. Außer dem Polizeihund, vielleicht. Auch wenn vieles genau so beschrieben ist, wie man’s als Landei von zu Hause her kennt: Ein paar Leut’ mit Grips gibt’s bei uns schon auch!

Sei’s drum! Der Klappentext deutet an, das es noch weitere Abenteuer mit dem Eberhofer Franz uns seiner skurrilen Sippschaft geben wird. Und Dorfdeppen hin oder her, ich glaub’, da bin ich wieder dabei!

Die Autorin:
Rita Falk, Jahrgang 1964, geboren in Oberammergau, lebt in Landshut und ist mit einem Polizeibeamten verheiratet. Wer mehr über die Autorin wissen möchte, findet eine ausführliche Vita im Anhang des Romans, in ihren eigenen Worten. Gleich hinter dem Glossar und den Rezepten von der Oma.

Rezensent: Edith Nebel
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Paul Grote: Der Champagner-Fonds – Kriminalroman

Paul Grote: Der Champagner-Fonds – Kriminalroman, München 2010, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-21237-3, 396 Seiten, Format 12 x 19 x 2,2 cm, EUR 8,95 (D), EUR 9,20 (A)

„Sie sind ein Gauner, Herr Achenbach, das darf man doch sagen, oder? Sie lernen schnell. Ist Ihnen klar, dass Sie damit ein riesiges Gebäude zum Einsturz bringen?“
„Ich habe den Krieg nicht angefangen.“
(Seite 325)

Philipp Achenbach ist Einkäufer des Kölner Weinimporteurs France-Import, Anfang 50 und geschieden. Er liebt seine Arbeit, schätzt seinen Chef und arbeitet in der Freizeit gern im Garten seines Einfamilienhauses. Mit seinem Sohn Thomas, 22, BWL-Student, kommt er gut aus. Die Krise kriegt Philipp allerdings, sobald die Rede auf die Banken und die von ihnen verursachte Krise kommt. Banken, das sind für Achenbach senior allesamt eiskalte spielsüchtige Betrüger, die ihre Kunden erst besoffen quatschen und dann über den Tisch ziehen. Und die mit Geldbeträgen jonglieren, die es ebenso wenig gibt wie Gott.

Dass er unter diesen Umständen von den aktuellen Plänen seines Chefs, Herrn Langer, nicht begeistert ist, liegt auf der Hand. Auch wenn dieser mit Beförderung und Gehaltserhöhung lockt. Achenbachs Chef möchte nämlich für einen erfolgreichen britischen Investmentbankers die Abwicklung eines Champagner-Fonds übernehmen. Das heißt, Philipp Achenbach soll das tun.

Champagner-Fonds? Unter dem Begriff kann sich der Einkäufer nichts vorstellen. Langer erklärt ihm das so: „Ich als Anleger gebe jemandem Geld. Der kauft verschiedene Champagner und lagert sie. Der Champagner steigt im Wert, was abhängig ist von der Marktentwicklung, Dauer der Lagerung, vom Namen des Produzenten und einigen anderen Faktoren.“ (Seite 47)

France-Import würde dabei den deutschen Anteil verwalten, den Champagner nach Deutschland bringen und dort den Kunden anbieten. Wein kaufen, lagern und verkaufen, das gehört zum täglichen Geschäft, darin sieht Achenbach kein Problem. Doch die Idee mit dem Champagner-Fonds ist ihm nicht geheuer.

Okay, die Jungs von der Fondsgesellschaft kaufen, wenn der Preis niedrig ist und verkaufen, wenn er steigt. Aber wie soll das technisch-organisatorisch vor sich gehen? Champagner wird ja in der Regel nicht als Fertigprodukt gelagert. Er muss erst degorgiert werden, ehe man ihn verkaufen kann. Aber wer entscheidet, wann es soweit ist? Jemand von der Fonds-Gesellschaft? Ja, und dann? Dann kommen die jeweiligen Produzenten mit ihren Mitarbeitern, der Dosage, ihren Korken und Etiketten angereist und degorgieren, verkorken und etikettieren ihren eigenen Champagner? Denn kein Winzer würde diese Tätigkeiten jemals aus der Hand geben und zulassen, das ein Produkt in seinem Namen auf den Markt kommt, an dem ein anderer herumgemurkst hat.

Haben die Fonds-Fritzen überhaupt die nötigen technischen Anlagen dafür? Und eigentlich sollte jeder Champagner nach dem Degorgieren noch drei Monate lang ruhen. Was ist, wenn in der Zwischenzeit der Preis wieder sinkt? Nach Philipp Achenbachs Kenntnis ist Champagner schon aus rein produktionstechnischen Gründen als Spekulationsobjekt ungeeignet.

Während Thomas Achenbach nach dem Fondsmanager, einem gewissen Mr. Goodhouse, recherchiert und lauter positive Informationen über einen seriösen Geschäftsmann findet, fährt Philipp Achenbach nach Reims. Die Gelegenheit, sich dort das Champagnerlager der Fondsgesellschaft anzusehen, kann er sich nicht entgehen lassen.

Quartier nimmt er bei seinem alten Freund Yves, einem der wenigen Menschen, denen er rückhaltlos vertraut. Ihm erzählt er, was sich in den letzten Wochen ereignet hat, und Yves bietet an, sich in Sachen Champagner-Fonds ein bisschen umzuhören. Tatsächlich bringt er in Erfahrung, dass der Fonds zwar Champagner kauft, aber in vernachlässigbar geringen Mengen. Das ergibt nicht annähernd die 7 Millionen Flaschen, die es rein rechnerisch sein müssten.

Obwohl Philipp Achenbachs Besuch im Champagnerlager angekündigt war, empfängt man ihn provozierend unverschämt und lässt ihn erst gar nicht hinein. Unverhoffte Hilfe erhält er wenige Tage später von einem Arbeiter aus dem Champagnerlager. Was dieser weiß und welche Interessen er verfolgt, sagt er nicht, aber er lässt Philipp Achenbach und dessen Sohn nachts heimlich ins Champagnerlager, damit sie sich selbst Reim und Vers auf die Geschichte machen können. Was die beiden Deutschen dort entdecken, verleiht dem Begriff „Etikettenschwindel“ eine ganz neue Dimension!

Wenn der Geschäftsführer des Fonds hier seine eigene trübe Suppe kocht, müssen Goodhouse und Langer dringend gewarnt werden! Aber mit dieser gut gemeinten Aktion reiten sich Vater und Sohn erst so richtig in die Sch***. Auf einmal haben sie nicht nur die Polizei am Hals, sondern auch noch ein paar Erfüllungsgehilfen der Fondsgesellschaft. Und die sind alles andere als zimperlich. Doch Philipp Achenbach glaubt inzwischen zu wissen, wo er hintreten muss, damit dieser Gegner in die Knie geht …

Es ist schon praktisch für einen Autor, wenn er einen grantelnden und illusionslosen Helden wie Philipp Achenbach schafft, der keine Angst vor plakativen Äußerungen hat. Ihm kann man ungestraft politisch unkorrekte Äußerungen in den Mund legen, die man sonst so nicht publizieren würde. Der Leser grinst und freut sich, wenn die Mächtigen der Welt mal so richtig ihr Fett wegkriegen – auch wenn er erkennt, wo man vielleicht noch ein wenig differenzieren könnte.

Der Protagonist hat spätestens seit der Finanzkrise etwas gegen Banker. Von den Jungs in der örtlichen Filiale angefangen bis hinauf zur BaFin, wo seiner Meinung nach „nur Dummköpfe und Ignoranten arbeiteten und abgetakelte Politiker.“ (Seite 69) Das Bild eines korrekten und integeren Geschäftsmanns, das alle vom britischen Investmentbanker Goodhouse zeichnen, passt daher nicht in seine Vorstellungswelt. Und wie kann es auch stimmen, wenn der Champagner-Fonds, in den Goodhouse die Firma France-Import hineingezogen hat, zum Himmel stinkt? Das muss ein Mann wie er gewusst haben. Oder zumindest geahnt. Hat Goodhouse sich auch irgendwann vom System korrumpieren lassen, wie Langer, der vom begeisterten Weinhändler zum Hand-Langer der Finanzhaie mutiert ist?

Die Wahrheit ist noch viel schlimmer …

Achenbach hängt an „seiner“ Firma, für die er schon seit 10 Jahren arbeitet. Und er will auf keinen Fall, dass Langer sie mit dem Champagner-Fonds ruiniert und die Mitarbeiter am Ende auf der Straße stehen. Deshalb verbeißt er sich so in die Idee, das Konzept als Schwindel zu entlarven und seinem Chef die Fonds-Idee auszureden. Das ist aller Ehren Wert, doch dabei legt er sich mit Gegnern an, die er kolossal unterschätzt. Denn nichts, wirklich gar nichts, ist hier so, wie es zunächst scheint.

Manchmal könnte man Achenbach und Sohn schütteln, weil sie in ihrer Naivität meinen, es allein mit Frechheit, gesundem Menschenverstand und der Hilfe guter Freunde mit professionellen Kriminellen aufnehmen zu können. Spannend für den Leser ist das allemal. Man muss auch kein Wein- oder Champagnerkenner sein, um der Handlung folgen zu können und Geschmack daran zu finden. Ein bisschen schneller ahnt man vielleicht, wo der Hase im Pfeffer liegt, wenn man der Spur nach weiß, wie Champagner hergestellt wird. Sollte man völlig ahnungslos an die Geschichte herangehen, ist das auch kein Drama. Paul Grote erklärt uns Lesern alles, was wir für den Fortgang der Geschichte wissen müssen.

Der Autor:
Paul Grote, geboren 1946, berichtete fünfzehn Jahre lang als Reporter für Presse und Rundfunk aus Südamerika. Dort begegnete der professionellen Seite des Weinbaus. Seit 2003 lebt er wieder in Berlin und widmet sich dem Schreiben.

Foto: © P. Kirchhoff (Peter Kirchhoff) / http://www.pixelio.de

Rezensent: Edith Nebel
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Maja Franklin: Tanz der Herzen – Liebesroman

Maja Franklin: Tanz der Herzen, 8-seitiger ROMANA-Liebesroman aus dem Cora-Verlag, Hamburg, in der Zeitschrift DAS NEUE BLATT, Ausgabe 41/2010 vom 6. Oktober 2010 aus dem Bauer-Verlag, Hamburg, Preis der Ausgabe: EUR 1,50

Eine Kooperation zwischen dem Cora- und dem Bauer-Verlag macht’s möglich: Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift DAS NEUE BLATT enthält einen 8-seitigen ROMANA-Liebesroman von Maja Franklin: TANZ DER HERZEN.

Wer Romantik mit einem Schuss feinen Humors mag – und wem vielleicht schon Maja Franklins Roman BEI DIR FAND ICH DAS PARADIES gefallen hat – der wird auch die Liebesgeschichte TANZ DER HERZEN gerne lesen.

Kurz zum Inhalt: Nach dem enttäuschenden Ende einer Liebesbeziehung hat Eileen O’Leary ihre Heimat verlassen und auf Mallorca eine Tanzschule eröffnet. Als eines Tages der Schotte Kendrick McKnight bei ihr im Büro steht und Einzelunterricht bucht, um alles zu lernen „was man so auf Hochzeiten tanzt“, ist sie spontan hingerissen von dem attraktiven Mann. Schade nur, dass er bald heiraten will!

Ihm gefällt die rothaarige Eileen auch. Wie bedauerlich, dass sie mit ihrem Angestellten, dem Tanzlehrer Ramon, liiert ist! Dass diese Beziehung nur eine Art Schutzbehauptung ist, damit Eileens spontan angereiste Mutter endlich ihre nervigen Verkupplungsversuche einstellt, das kann der schottische Tanzschüler ja nicht wissen.

Wie das immer so ist, wenn Menschen nicht rechtzeitig miteinander Klartext reden: Es gibt eine Menge Missverständnisse und ein enormes Durcheinander. Auch Tanzlehrer Ramon verlässt sich auf Augenschein und Vermutungen und trägt dadurch noch zusätzlich zur Verwirrung bei. Und sicher wäre es auch hilfreich, wenn Kendrick McKnight einfach mal zuhören würde, wenn man ihm etwas erklären will. Aber das scheint nicht seine starke Seite zu sein. Männer!

Eileens Mutter jedoch, die mit ihrer trampeligen Einmischung in das Liebesleben ihrer Tochter das Chaos überhaupt erst ausgelöst hat, kriegt von all diesen Verwicklungen nichts mit. Mütter!

Bis alle Missverständnisse ausgeräumt sind und das Chaos sich lichtet, durchlaufen sämtliche Beteiligten eine emotional aufreibende Phase. Für den Leser, der ja mehr weiß als die handelnden Personen, ist das spannend und unterhaltsam.

Illustriert ist der Kurzroman mit Farbfotos von Mallorca und stimmungsvollen Aufnahmen von einem zauberhaften Paar unter Palmen, das tatsächlich so aussieht wie von der Autorin beschrieben. Da hat jemand eine tolle Bildrecherche gemacht, denn offenbar wurden die Landschaften und die Models nicht eigens für TANZ DER HERZEN fotografiert, sondern stammen aus einem gut sortierten Bildarchiv.

PS: Ich hätte die Romanvorstellung ja längst fertig haben können, aber der Kater ist auf meinen Notizen eingeschlafen!

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Ruth Reuter (Text), Maren Frank (Illustration): Der Schneemann – Kindermalbuch
Oktober 5, 2010, 2:16 pm
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Ruth Reuter (Text), Maren Frank (Illustration): Der Schneemann – Kindermalbuch, Wien 2010. Edition Schreiblöwe, ISBN 978-3-902574-26-8, 22 Seiten, Softcover, Format: 20,5 x 29,6 x 0,3 cm, EUR 5,90

Was macht der Schneemann, wenn ihm die Welt so gut gefällt, dass er im Frühjahr nicht einfach wegschmelzen will? Er sucht sich ein garantiert kaltes Sommerquartier. Ob Peter Pans Nimmerland ein möglicher Sommersitz wäre? Oder der Nordpol? Aber vielleicht gibt es ja auch ein passendes Ziel, das nicht ganz so weit entfernt liegt.

Der Schneemann schnappt seinen Besen und macht sich per Anhalter auf den Weg. Aber kein Autofahrer hält an, weil niemand Lust hat, mit dem nassen Passagier den Beifahrersitz zu beschmutzen. Doch als ein Fahrer die Tür seines Kühlwagens offen stehen lässt, während er Ware ausliefert, nutzt der Schneemann die Gunst des Augenblicks und steigt ein.

Der Kühlwagen bringt ihn in ein Kühlhaus. Dort ist es zwar angenehm kalt, aber leider auch sehr einsam, und der Schneemann sehnt sich nach einer Schneefrau. Wird es für ihn ein Happy End geben?

Eine sympathische Geschichte, bei der man dem Kind vielleicht doch das eine oder andere erklären muss, sobald das Thema „Schneefrau“ ins Spiel kommt. Doch keine Angst – Aufklärung ist hier nicht das Thema! 😉 Der erklärungsbedürftige Begriff lautet „Gleichberechtigung“. Und der dürfte einen Erwachsenen ja kaum in Verlegenheit bringen.

Ob die Kinder es wohl aushalten werden, den großen weißen Schneemann auch wirklich weiß zu lassen? Oder ob’s hinterher pinkfarbene, blaue, gelbe, grüne oder in allen Regenbogenfarben gemusterte Schneemänner gibt? Das wäre vielleicht nicht ganz im Sinne der beiden Macherinnen dieses Malbuchs – aber es wäre kreativ. Und das dürfte Ruth Reuter und Maren Frank wiederum gefallen. Kinder fragen da sowieso nach nichts, sie malen spontan und nach dem Lustprinzip.

Es könnte auch sein, dass der eine oder andere kleine Malbuch-Besitzer gegen Ende des Winters den örtlichen Tiefkühlkosthändler fragt, ob dieser nicht seinen Schneemann über den Sommer mit ins Kühlhaus nehmen könne … Dann verkneifen Sie sich am besten das Lachen und erzählen dem „Eismann“ von diesem Buch …

Können Kinder der großen weißen Fläche widerstehen oder werden sie ihren Schneemann in allen Regenbogenfarben anmalen?

Rezensent: Edith Nebel
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Anja Jonuleit: Herbstvergessene – Roman

Anja Jonuleit: Herbstvergessene – Roman, München 2010, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-24788-7, Softcover/Klappenbroschur, 428 Seiten, Format: 13,5 x 21 x 3,3 cm, EUR 13,90 (D), EUR 14,30 (A)

„Ich hatte eine Mutter, der es schlicht zu langweilig war, sich um ein Kind zu kümmern. Da gab es nichts, wo sie glänzen konnte, keine Bühnen, auf den sie sich präsentieren konnte. Wissen Sie, dass sie meinen Geburtstag meistens einfach vergessen hat?“ (Seite 332)

Die Raumausstatterin Maja Sternberg, 41, hat aus gutem Grund ein überaus distanziertes Verhältnis zu ihrer Mutter, der erfolgreichen Konferenzdolmetscherin Lilli. Seit 10 Jahren haben sie sich nicht mehr gesehen, abgesehen von einer kurzen Zwangsbegegnung auf einer Beerdigung. In all den Jahren haben sie lediglich Weihnachtskarten ausgetauscht.

Aufgewachsen ist Maja in verschiedenen Internaten und bei ihrer Großmutter Charlotte. Seit deren Tod ist das Thema „Familie“ für sie erledigt. Umso überraschter ist sie, als Lilli eines Tages bei ihr anruft und sagt: „Es gibt da etwas, was ich dir sagen muss … und zeigen.“ (Seite 15)

Maja verabredet sich mit ihrer Mutter für die folgende Woche. Doch als sie in Wien eintrifft, steht sie vor verschlossener Tür. Den Grund dafür erfährt sie von der Nachbarin Erna Buchholz: Lilli Sternberg ist tot. Sie ist vom Balkon gesprungen – Selbstmord aus Angst vor Schmerzen und Siechtum. Die Kettenraucherin Lilli litt an Lungenkrebs.

Maja ist wie vom Donner gerührt. Selbstmord? Das passt so gar nicht zu ihrer Mutter. Und selbst wenn sie diese Absicht gehabt hätte … hätte sie nicht noch die paar Stunden gewartet und erst das Treffen mit ihrer Tochter hinter sich gebracht, wenn sie sie schon eigens nach Wien bestellt hat? Ob Lilli ermordet wurde? Ein Unfall kann es nicht gewesen sein, versehentlich kann man nicht über diese Balkonbrüstung fallen. Und was war es eigentlich, das Lilli ihrer Tochter so dringend mitteilen wollte?

Maja bleibt erst einmal in Wien. Die Beerdigung muss organisiert und die Wohnung aufgelöst werden. Vielleicht ergibt ja die Durchsicht des Nachlasses Hinweise darauf, was ihre Mutter in jüngster Zeit bewegt hat. Doch alles, worauf Maja stößt, ist eine Fülle von Rätseln und Ungereimtheiten. Eine Bekannte ihrer Mutter lässt ihr einen Umschlag zukommen, den diese ihr kurz vor ihrem Tod zur Aufbewahrung gegeben hat. Inhalt: Ein Schlüssel und ein Foto von Oma Charlotte mit einem Baby auf dem Arm. Das Bild trägt auf der Rückseite den Vermerk: „Wir beide in Hohehorst, März 1944“.

Hohehorst? Und wer bitte ist das Kind? Lilli kann es nicht sein, denn die war ein heller, blonder Typ, und das Kind auf dem Foto ist zweifellos dunkelhaarig. Um ein älteres Kind Charlottes kann es sich auch nicht handeln, denn das Baby auf dem Foto ist maximal vier Monate älter als Lilli. Das passt zeitlich nicht.

Lillis Geburtsurkunde, die Maja im Nachlass findet, trägt zusätzlich zur Verwirrung bei. Lilli ist im Mai 1944 in Hohehorst zur Welt gekommen. Nicht in Bremen, wie sie immer gesagt hat. Und es ist kein Kindsvater eingetragen. Aber Lillis Vater war doch Paul, Charlottes erster Ehemann, der als im Krieg vermisst gilt! Opa Gustav Benthin war „nur“ Majas Stief-Großvater. Ist Charlotte gar nicht mit Paul verheiratet gewesen?

So nach und nach dämmert es Maja, dass sie von ihrer Familiengeschichte rein gar nichts weiß. Hohehorst, das hat sie inzwischen herausgefunden, war ein Lebensborn-Entbindungsheim. Mit Sicherheit könnten die Lebenserinnerungen von Oma Charlotte Licht ins Dunkel bringen. Dass sie welche geschrieben hat, erfährt Maja zufällig am Telefon. Ein Verlag hat die ersten 50 Seiten davon zugeschickt bekommen und interessiert sich nun auch für den Rest. Nur hat Maja keine Ahnung, wo sich das Manuskript befindet. Und da der Verlag unwillig oder unfähig ist, ihr eine Kopie des Teils zuzuschicken, den er bereits vorliegen hat, ist auch von dieser Seite keine Aufklärung zu erwarten. Lillis Anwälte erweisen sich als ebenso unkooperativ und nutzlos.

Erst als Maja in Lillis Unterlagen einen Zeitungsausschnitt über einen 1950 verschwundenen Husumer Arzt findet, kommt ein wenig Bewegung in die Sache. Sie macht Roman Sartorius, den Sohn des Arztes, ausfindig. Vielleicht kann er ihr ja sagen, in welcher Beziehung sein Vater zu ihrer Mutter stand. Sie erfährt, dass Dr. Heinrich Sartorius von 1941 bis Kriegsende Belegarzt im Lebensborn-Heim Hohehorst war. Er muss also Großmutter Charlotte gekannt haben! Und sicher hat er auch gewusst, was es mit dem dunkelhaarigen und dem blonden Kind auf sich hat.

In Hohehorst muss Maja also ansetzen, wenn sie etwas über ihre Familiengeschichte erfahren will. Und Charlottes Manuskript muss sie finden. Das könnte das gewesen sein, was Lilli ihr kurz vor ihrem Tod noch hatte zeigen wollen. Aber das Rätsel ihrer Abstammung klärt noch immer nicht die Umstände, unter denen Lilli Sternberg zu Tode kam. Oder doch? Hängt beides zusammen?

Maja lässt nicht locker. Sie reist, sucht, recherchiert und befragt alle möglichen Zeitzeugen und Weggefährten ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Doch wer die falschen Fragen stellt, bekommt auch nicht die richtigen Antworten. Nichts, was sie im Laufe ihrer Ermittlungen erfährt, passt zu dem Bild, das sie von ihrer Großmutter hatte. Erst ein unbedacht dahingesagter Satz einer Wiener Bekannten ihrer Mutter bringt Maja auf die richtige Spur …

Die Wahrheit ist ebenso simpel wie ungeheuerlich – und es gibt Leute, die würden alles tun, damit diese Wahrheit nicht ans Licht kommt.

Parallel zur Geschichte von Maja Sternbergs Spurensuche erhält der Leser Einblick in das verschollene Manuskript von Majas Großmutter. Wir erfahren die tragische Geschichte ihrer großen Liebe zu Paul, einem verheirateten Mann jüdischer Abstammung. Wir erleben mit, wie sie von ihrer Heimatstadt Königsberg ins Lebensbornheim Hohehorst bei Bremen kommt und wie sie schließlich nach traumatischen Erlebnissen allein mit Kind in Lindau am Bodensee landet. Dabei sind wir nicht wirklich klüger als Maja, die sich von diesem Manuskript Klarheit über ihre Familiengeschichte erhofft. Denn wir sitzen, ohne es zu bemerken, demselben Irrtum auf wie Maja Sternberg.

Erst ganz zum Schluss fallen die Puzzleteilchen an ihre Plätze und ergeben ein vollständiges Bild der Ereignisse während der Kriegs- und Nachkriegszeit. Und dieses Bild ist für keinen der Beteiligten schmeichelhaft. Nun erfahren wir auch, was es mit dem Titel des Buchs auf sich hat, HERBSTVERGESSENE … ein weiteres gruseliges Kapitel aus dem großen Buch der Familiengeheimnisse.

Die egozentrische Lilli und die eigenbrötlerische Maja machen es einem nicht leicht, sie zu mögen. Sympathisch an Maja ist allerdings ihre Ehrlichkeit. Sie macht sich keine Illusionen über ihre Macken und Eigenheiten. Und auch nicht über ihre Beziehungen zu Männern im Allgemeinen und die zu ihrem Lebensgefährten im Besonderen. Ob man die Hauptpersonen nun ins Herz schließt oder nicht – auf jeden Fall will man eine Erklärung für all die Widersprüche in Charlottes und Lillis Biographie haben. Und so verfolgt man mit Spannung Majas Recherchen und Oma Charlottes Erinnerungen. Bis sich alles zu einem Gesamtbild fügt.

Der hollywoodreife Showdown am Ende hätte nicht unbedingt sein müssen, aber just dieser Handlungsstrang hat die Geschichte ins Rollen gebracht, und auf diese Weise findet er eben seinen übermäßig dramatischen Abschluss. Eigentlich schade – und unnötig. Die Geschichte von Charlotte, Lilli und Maja wäre auch ohne diese aufgesetzte Action spannend und interessant genug gewesen.

Für alle, die in Sachen Lebensborn-Heime ähnlich unbewandert sind wie die Heldin: Das Lebensborn-Heim Hohehorst, Heim Friesland, gab es wirklich. Die Gebäude stehen noch und dienen heute als Therapiezentrum für Drogenabhängige. Hier ein paar Aufnahmen aus dem Jahr 2010:

Herrenhaus Hohehorst, Schwanewede

Zufahrt mit Torhäusern.

Laternenaufsätze der Torpfeiler.

Foto: Quarz. Die Bild-Dateien wurden unter der Lizenz „Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen Deutschland“ in Version 3.0 (abgekürzt „CC-by-sa 3.0/de“) veröffentlicht.

Die Autorin
Anja Jonuleit, 1965 in Bonn geboren, ist Übersetzerin und Dolmetscherin. Sie lebte und arbeitete in New York, Bonn, Rom, Damaskus und München. 1994 kehrte sie mit ihrer Familie an den Bodensee zurück. Sie ist Mutter von vier Kindern. Ihren ersten Roman DAS WASSER SO KALT veröffentlichte sie 2007. HERBSTVERGESSENE ist ihr zweiter Roman.

Rezensent: Edith Nebel
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Heide John: Wir sind die Waldens – Ponychaos hoch 7
September 15, 2010, 3:30 pm
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Heide John: Wir sind die Waldens – Ponychaos hoch 7, für Kinder ab 8, Würzburg 2010, Arena Verlag GmbH, ISBN 978-3-401-45393-4, Hardcover, 208 Seiten, Einband und Illustrationen: Elke Broska, Format: 17,5 x 21 x 2,1 cm, EUR 12,95.

5 Kinder haben der Graphikdesigner Claas Walden und seine Frau Rena:
Lasse, 18, ist meist mit seinen Freunden unterwegs und nur noch selten zu Hause.
Lennart, 16, vergisst alles um sich herum, wenn er kocht.
Finn, 14, ist der Künstler und Scherzkeks der Familie:er verübt gern Streiche und versteht etwas vom Graffiti-Sprayen.
Thiess, 13, hat am liebsten seine Ruhe und ein spannendes Buch.
Rieke, 10, das einzige Mädchen, liebt Pferde und vor allem ihr Haflinger-Pony Balduin.

„Zwergenpalast“ nennen die Waldens liebevoll das kleine Häuschen in Rendsburg, in dem sie gemütlich aber recht beengt wohnen. Doch nun ist Mutter Rena wieder schwanger – mit Zwillingen. Und damit die zwei neuen Waldens weder im Bad einquartiert werden müssen, wie Thiess vorschlägt, noch in der Rumpelkammer, wie Finn meint, steht ein Umzug an.

Opa Peter, Claas’ Vater, bewohnt ganz allein den Waldenhof in einem kleinen Ort an der Nordsee. Na ja, „allein“ ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort: Als Tierfreund und Tierschützer betreibt er so etwas wie einen Gnadenhof. Er hat ein Pferd und ein Pony, die Ziege „Frau Doktor“, zwei Schafe und Laufenten „Bürger“ und „Meister“, die so heißen, weil sie sich stets so wichtig schnatternd in den Vordergrund drängen wie manch ein Lokalpolitiker. Eine Oma Walden gibt es nicht, dafür Opas Lebensgefährtin Babette, eine Künstlerin, die allerdings nur zeitweise auf dem Hof lebt.

Und jetzt muss der Hof noch 9 weitere Waldens samt Pony Balduin verkraften. Opa Peter sieht da kein Problem, Zimmer gibt’s auf dem Anwesen ja genügend. Also ziehen Claas, Rena und die Kinder in den Sommerferien ein.

Opa Peter ist schwer in Ordnung, trotz merkwürdiger Haartracht, schriller Klamotten und der Tatsache, dass er darauf besteht, von seinen Enkeln „Peter“ genannt zu werden. Für „Opa“ fühlt er sich noch viel zu jung.

Für die Waldenbrüder ändert sich das Leben durch den Umzug kaum. Sie haben lediglich einen weiteren Weg zu ihrer bisherigen Schule und zu ihren Freunden. Rieke dagegen wird nach den Sommerferien auf ein wohnortnahes Gymnasium wechseln und neue Freunde finden müssen. Der gleichaltrige Nachbarsjunge Tjorven Schumacher kommt dafür definitiv nicht in Frage. Seine Mutter ist supernett, aber der Junge ist ein ewig mürrischer und patziger Flegel, auch wenn man sich ihm noch so freundlich nähert. Keines der Waldenkinder kann ihn leiden. Und mit Ausnahme seiner Mutter anscheinend auch sonst niemand.

Jetzt kommt auch noch tierischer „Familienzuwachs“ auf den Hof! Opa Peter bekommt drei Notfall-Pferde die aus schlechter Haltung gerettet wurden: eine abgemagerte Friesenstute, einen scheuen Schimmelwallach und ein drei Monate altes schwächliches Fohlen, das man von Hand aufziehen muss.

Rieke kümmert sich liebevoll um das Fohlen, dem sie den Namen Fietje gibt. Und sie widmet ihm so viel Aufmerksamkeit, dass sich ihr eigenes Pony, Balduin, dadurch vernachlässigt fühlt und einen geradezu deprimierten Eindruck macht. Wie soll Rieke nur beiden gerecht werden? Ihr Bruder Thiess hat da eine Idee …

Die neue Stute macht keine Probleme, Finn darf sie sogar reiten. Nur der Schimmelwallach Goliath scheint ein hoffnungsloser Fall zu sein. Niemand darf ihn anfassen, ja man darf nicht mal in seine Nähe kommen, ohne dass er durchdreht. Da trifft es die Geschwister Walden besonders hat, dass ausgerechnet Tjorven, der unsympathische Nachbarsjunge, einen Draht zu Goliath hat. Das kann Finn unmöglich auf sich sitzen lassen! Er begeht einen verhängnisvollen Fehler – und das ausgerechnet jetzt!

Keine Minute ist es langweilig bei den sympathisch-trubeligen Waldens, und selbst als Erwachsener wäre man gerne mittendrin. Jeder in der Familie lässt dem anderen seine Marotten und Eigenarten, und wenn Mama nun mal keinen Kuchen backen kann und schrille Klamotten näht, die außer dem unkonventionellen Schwiegervater niemand tragen will, dann ist das eben so. Das wird allenfalls liebevoll bespöttelt, aber ansonsten respektiert. Genauso wie Opa Peters Tierschutz-Aktivitäten, die ihn manchmal an seine Grenzen bringen. Oder Papa Claas’ Leidenschaft für Eishockey, die keiner in der Familie versteht oder gar teilen kann. Hier darf jeder so sein wie er ist – so lange bestimmte Regeln eingehalten werden, die ein faires Miteinander ermöglichen. Und so sind die Waldens ein fröhlicher und leicht chaotischer Haufen mit einem großen Herz für Mensch und Tier.

Was unfaire und respektlose Behandlung bei einem Menschen anrichtet, das sieht man am Nachbarsjungen Tjorven, der sich dadurch zu einem permanent pampigen Griesgram entwickelt hat. Aber vielleicht lässt er sich ja irgendwann von der offenen und positiven Stimmung im Hause Walden mitreißen.

Dieses liebevoll gestaltete Buch kann man guten Gewissens LeserInnen ab 8 in die Hand geben. Man muss nur damit rechnen, dass sie sich nach der Lektüre sechs Geschwister und einen Bauernhof wünschen, mit Pferden, Ponys, Ziegen, Schafen und Enten. (Und am besten noch mit einem Opa Peter – den aber ohne kratzigen Bart.) Dass Tiere nicht nur zum Spielen und Streicheln da sind, sondern dass ihre Versorgung auch Verantwortung bedeutet und Arbeit macht, das erleben sie bei Rieke und ihren Ponys.

Die Illustratorin Elke Broska hat die Geschichte sehr genau gelesen und jeden der menschlichen und tierischen Helden so dargestellt, wie die Autorin sie beschrieben hat. Die Accessoires, die sie den Personen auf dem Cover in die Hand drückt, haben alle ihre Berechtigung. Dass Tiere bei den Waldens immer mit zur Familie gehören, hat sie richtig erkannt: Man beachte das überzählige behaarte Beinpaar am oberen Cover-Rand. 😉

Bei so vielen Kindern und so vielen Tieren wären noch jede Menge weiterer Abenteuer denkbar. Ob die liebenswerten Chaoten vom Waldenhof wohl Serienhelden werden? Das Zeug dazu hätten sie.

Die Autorin
Heide John lebt in Köln. Nach dem Studium der Germanistik arbeitete sie als freie Journalistin, Redakteurin und Lektorin. Seit 2001 schreibt sie Bücher für Kinder und Erwachsene.

Rezensent: Edith Nebel
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Gina Mayer: Das Lied meiner Schwester – Roman

Gina Mayer: Das Lied meiner Schwester – Roman, Berlin 2010, Aufbau-Verlag (Rütten und Loening), ISBN 978-3-352-00786-6, Hardcover mit Schutzumschlag, 544 Seiten, Format: 14 x 22 x 4,5 cm, EUR 19,95 (D), EUR 20,60 (A)

„Sie wusste nichts über ihre Mutter. Ihre Zieheltern hatten ihr erzählt, dass sie Sängerin gewesen sei und bei einem Fliegerangriff ums Leben gekommen wäre. Das entsprach nicht der Wahrheit.“ (Seite 525)

Düsseldorf 1964: Die Musikstudentin Friederike fällt aus allen Wolken, als ihre Tante ihr zum 21. Geburtstag ein Bündel Briefe überreicht, die ihre Mutter an sie, das damals noch ungeborene Kind, geschrieben hat. Im Gefängnis, die eigene Hinrichtung vor Augen.

Davon hat Friederike nichts gewusst. Stimmt es denn wenigstens, dass ihr Vater vor Stalingrad gefallen ist? Nein, auch das war ganz anders. Friederike liest die Briefe, und ihre Tante beginnt endlich zu erzählen. Nach und nach erfährt die Studentin die schreckliche Wahrheit.

Alles beginnt Mitte der 20-er Jahre: Nach dem Tod der Eltern nimmt die Krankenschwester Anna Mandel ihre 17-jährige Schwester Orlanda bei sich auf. Fortan leben die beiden zusammen in einer kleinen Wohnung in Düsseldorf. Besonders nahe stehen sie sich nicht, dafür sind sie zu verschieden.

Anna, äußerlich unscheinbar und schnörkellos vernünftig, musste sich schon als Kind um den Haushalt, die kranke Mutter und die jüngere Schwester kümmern. Ihr Vater, der Anna die schwere Verantwortung aufgebürdet hat, verachtet sie wegen ihrer nüchternen Art. Sein Liebling ist die schöne, flatterhafte Tochter Orlanda, die musikalisch ist wie er.

Anna wurde, wie gesagt, Krankenschwester, die kapriziöse Orlanda studierte Gesang und hat nun ein Engagement als Chorsängerin am Düsseldorfer Operettenhaus.

Im Juni 1929 nimmt das Unheil seinen Lauf: Durch ihre Freundin Fritzi Albrecht lernt Orlanda zwei befreundete Musiker kennen: den Operntenor Clemens Haupt und seinen Kumpel, den Jazzgeiger Leopold Ulrich. Orlanda fühlt sich zu beiden hingezogen und wird sich auch in den kommenden Jahren nicht zwischen Clemens und Leopold entscheiden können. Ist sie mit dem einen zusammen, sehnt sie sich nach dem anderen – es wird ein permanentes Hin und Her. Orlanda beginnt eine Beziehung mit Geiger Leopold. Sänger Clemens, der sich ebenfalls in sie verliebt hatte, tröstet sich vorübergehend mit ihrer Freundin Fritzi.

Nachdem Orlanda ihre Stelle im Operettenchor verliert, landet sie als Sängerin beim Rosenland–Swingorchester, einer Jazzband. Nach anfänglichen Umstellungsschwierigkeiten wird ihr klar: nie wieder Operette! Jazz ist genau ihr Ding. Doch schon an Weihnachten 1929 ist es damit wieder vorbei: Dass ihre Musikerkollegen Juden sind, bringt die „Völkischen“ auf den Plan. Nach einem Auftritt der Band kommt es zu einer brutalen Prügelei. Dem Gitarristen wird die Hand zertrümmert. Das Rosenland-Orchester gibt es nicht mehr. Auch die nächste Band, mit der Orlanda auftritt, bekommt bald Probleme wegen ihres englischsprachigen Repertoires und der jüdischen Musikerinnen und löst sich auf.

Inzwischen haben wir 1938. Anna ist mit Johannes Bredelin, dem Organisten der Friedenskirche, verheiratet, Orlanda mit Leopold. Seit Jazz als „entartete Kunst“ gilt, steht Orlanda nicht mehr auf der Bühne sondern hinter der Theke eines Gemischtwarenladens. Während Clemens zum Weltstar aufsteigt, weil er sich mit den Nazis arrangiert, ist Leopold wegen seiner kritischen Äußerungen arbeitslos und hängt deprimiert zu Hause herum. Den Lebensunterhalt verdient Orlanda. Sie trifft sich jetzt wieder mit Clemens.

Für ihre Schwester Anna ist die Sache klar: „Orlanda war nie erwachsen geworden, obwohl sie inzwischen dreißig war. Im Grunde hing sie immer noch ihren verstiegenenen Kindheitsträumen nach. Dabei hatte sie alle ihre hochfliegenden Pläne aufgeben müssen, sie war weder ein berühmter Operettenstar geworden noch eine große Jazzsängerin. Jetzt arbeitete sie als gewöhnliches Ladenmädchen.“ (Seite 261).

Anders als Clemens Haupt oder Leopold Ulrich würden sich Anna und ihr Mann Johannes nie zu einem öffentlichen politischen Statement hinreißen lassen. Dass sie Mitglieder der regimekritischen Bekennenden Kirche sind und sich regelmäßig mit Gleichgesinnten treffen, wissen nur eine Handvoll Leute. Durch diesen Gebetskreis kommen Anna und Johannes in Kontakt mit einer Widerstandsgruppe. Sie drucken Plakate und Flugblätter und malen Parolen an Hauswände. Und sie verstecken und versorgen von den Nazis verfolgte Personen.

Orlanda, die seit März 1939 von Leopold getrennt lebt, ist zum Arbeitsdienst bei Rheinmetall abkommandiert worden. Clemens und Leopold sind an der Front. Unabhängig von Annas Aktivitäten, von denen sie gar nichts weiß, denkt Orlanda daran, in den Widerstand zu gehen: „Allein konnte sie nichts ausrichten. Man musste sich zu einer Gruppe zusammenschließen und gemeinsam zuschlagen. Aber wie sollten sich Gleichgesinnte zusammenfinden, wenn man nach der leisesten kritischen Äußerung im Gefängnis landete? Es gab einen Widerstand. Das bewiesen die Zeichen an der Wand. ‚Weg mit Hitler’, gänzte es eines Morgens in nasser Ölfarbe an der roten Klinkermauer vor der Fabrik.“ (Seite 439)

In einem Streit zwischen den Schwestern kommt es zu einem folgenschweren Missverständnis, und Anna verplappert sich. Jetzt weiß Orlanda Bescheid. „Es war der Abend des 20. März 1942, als die beiden Schwestern dieses Gespräch führten, als Anna Orlanda endlich von der Gruppe erzählte, der sie seit fast vier Jahren angehörte (…).“ (Seite 444) Jetzt will sich Orlanda der Gruppe ebenfalls anschließen, auch wenn ihre Schwester Bedenken hat.

Elisabeth, die die Widerstandsgruppe leitet, wird für Orlanda zum Idol, dem sie mit glühender Begeisterung nacheifert. Merken die Schwestern, dass Elisabeths Ideen und Pläne immer radikaler, weltfremder und gefährlicher werden? Und vor allem: Merken sie es rechtzeitig?

Sorgfältig hat die Autorin für ihr Buch recherchiert: über Jazzmusik und den Operettenbetrieb, über die Arbeit einer OP-Schwester, die Geschichte des Evangelischen Krankenhauses in Düsseldorf und über den Kirchenkampf zwischen der Bekennenden Kirche und den Deutschen Christen und über vieles andere mehr.

Wieder einmal ist es ihr gelungen, Frauengestalten zu schaffen, die einem nachhaltig im Gedächtnis bleiben. Die bodenständige Anna, die schon als Zehnjährige das Leben einer Erwachsenen führen musste, die impulsive Orlanda, die niemals wirklich erwachsen wird. Und Fritzi Albrecht, der sehr viele Opfer abverlangt werden. Im Vergleich dazu wirken die Männer fast ein wenig blass: Clemens, dem der Opportunismus quasi in die Wiege gelegt wurde, Leopold, der gegen alles kämpfen kann, nur gegen seine Gefühle nicht, der weltfremde Künstler Johannes und der überzeugte Nazi Dr. Müller.

Manche Personen möchte man schütteln, weil sie so handeln, wie sie handeln. Aber ihr Tun ist stets folgerichtig. Es ist nachvollziehbar dass sie aufgrund ihrer Situation, ihrer Überzeugung oder ihrer Persönlichkeit im Moment nicht anders können.

Raffiniert ist der Aufbau der Geschichte, da man wegen der Rahmenhandlung lange Zeit rätselt, wie denn die Musikstudentin aus den 60-er Jahren in die Geschichte der Schwestern Mandel hineingehört. Und wer wohl die Mutter ist, die im Gefängnis Briefe an ihr ungeborenes Kind schreibt? Erst mit der Zeit beginnt man die Zusammenhänge zu ahnen – und sich zu fragen, wie es nur so weit kommen konnte.

Auf geradezu unheimliche Weise lässt uns die Autorin manchmal weit in die Zukunft blicken. Ganz nebenbei erfahren wir, was aus dem Mann wird, der eine der Sängerinnen zum Krüppel schlägt: Er wird im Jahr 1988 als mehrfacher Großvater und pensionierter Direktor sterben. Wir sehen auch, wie das restliche Leben des Rosenland-Gitarristen verläuft. Gina Mayer lässt uns sogar wissen, was aus dem Wespennest im Gasthaus wird, in dem Dr. Müller seine Hochzeit feiert: 1973 wird es bei Renovierungsarbeiten im Bauschutt enden. Diese kleinen, schlaglichtartigen Szenen haben mal tragischen und mal komischen Charakter – und bringen die Geschichte von Anna und Orlanda in Zusammenhang mit dem Hier und Jetzt. Das ist nicht einfach eine Story von anno dunnemals. Sie wirkt bis in die Gegenwart und in die Zukunft nach.

Die Sprache ist zum Teil wunderschön bildhaft und geradezu poetisch: „Die Stufen glänzten speckig wie ein altes Jackett.“ (Seite 7). „Orlanda. Nicht Lissy oder Betsy oder Fritzi, sondern Orlanda. Ein Name so außergewöhnlich wie eine Barockkirche mitten in einem Vergnügungsviertel.“ (Seite 20) Diese Elemente werden sehr wohldosiert eingesetzt. Zu keiner Zeit besteht Kitschgefahr.

Auch wenn das Thema sehr ernst ist, ist die Geschichte keineswegs humorlos erzählt. Das kleinkarierte Hickhack in Annas Gebetskreis bringt jeden zum Grinsen, der jemals mit Kollegen oder Vereinskameraden zu tun hatte. Nett ist auch die Szene, in der Anna sich über ihre Ex-Kollegin Greta, die jetzige Ehefrau des Chirurgen Dr. Müller, Gedanken macht: „Jedes neue Kind präsentierte sie stolz im Evangelischen Krankenhaus. Die anderen Schwestern überschlugen sich jedes Mal vor Begeisterung über die blond gelockten, pausbäckigen Geschöpfe. Anna fand, dass sie alle gleich aussahen. Ob Müller sie auseinanderhalten konnte? Immerhin unterschieden sie sich ja noch in der Größe.“ (Seite 264)

In ihrer Danksagung am Schluss des Buchs verrät uns Gina Mayer, dass ihr für die Schwester Anna im Roman das Berufsleben ihrer Schwiegermutter als Vorbild gedient hat. „Meine erfundene Anna hat übrigens nicht nur den Beruf von Schwester Lore übernommen, sondern auch ihre Arbeitseinstellung und viele Charakterzüge“, schreibt die Autorin (Seite 533). Wenn das so ist, dann hat sie ihrer Schwiegermutter ein ebenso sympathisches wie eindrucksvolles literarisches Denkmal gesetzt.

Die Autorin
Gina Mayer, 1965 in Ellwangen geboren, lebt mit ihrer Familie in Düsseldorf. Bevor sie freie Autorin wurde, arbeitete sie als Werbetexterin.

Work in progress

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
     
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